Spardebatte: Rat schickt Zukunftsvertrag auf den Weg

Weniger Beinfreiheit gibt‘s nur im Billigflieger. Anlässlich der großen Entscheidungsrunde zum Zukunftsvertrag war der große Sitzungssaal im Rathaus zum Bersten gefüllt.

10.07.11 –

Eine Diät beschlossen, aber noch kein Gramm abgenommen / Endgültige Entscheidung im September

(Quelle: KEHRWIEDER am Sonntag, 10.07.11) Hildesheim (Von Sara Reinke). Weniger Beinfreiheit gibt‘s nur im Billigflieger. Anlässlich der großen Entscheidungsrunde zum Zukunftsvertrag war der große Sitzungssaal im Rathaus zum Bersten gefüllt. Rund 150 Zuschauer wollten wissen, wo die Reise hingeht. Für soviel Bürgerinteresse sind die Hildesheimer Ratssitzungen nicht ausgelegt. Obwohl Helfer zwischen die vorhandenen Stuhlreihen noch weitere Sitzmöglichkeiten gezwängt hatten, musste die Tür zum Foyer schließlich offen bleiben. Ein Teil des Publikums blieb, rein räumlich betrachtet, auch diesmal außen vor.

Inhaltlich dagegen ließen sich die Zuhörer die Gelegenheit nicht entgehen, an der nun öffentlich geführten Debatte teilzunehmen. Nicht zuletzt auch durch die Möglichkeit, sich zu Beginn der Sitzung zu Wort zu melden. Die dafür vorgesehenen 30 Minuten reichten für die vielen kritischen Fragen kaum.

"Warum soll der Jugendtreff Neuhof geschlossen werden?", das wollten beispielsweise Schüler Christoph und seine vier jungen Freunde als begeisterte Nutzer eben jener Einrichtung gern einmal persönlich hören. Und Andreas Marx vom Studierendenausschuss AStA fragte nach der Einbeziehung der Bürger in die Spar-Überlegungen – ein Thema, das im Vorfeld der an diesem Abend gefällten Beschlüsse nicht nur aus seiner Sicht zu kurz gekommen ist.

Von "Demokratie im Schweinsgalopp" sprach auch Grünen-Ratsherr und Ex-Marathon-Läufer Ulrich Räbiger, der sich vom Tempo der Entscheidungen und Umfang der Vorlage nun selbst überrannt sah. Bereits mehrfach hatte seine Fraktion zudem bemängelt, dass der Lenkungsausschuss nicht wie ursprünglich geplant alle vier Wochen Zwischenergebnisse seiner Beratungen öffentlich gemacht hat.

Andererseits hält sich das Interesse der Bürger am Thema Zukunftsvertrag auch Wochen nach Bekanntwerden der diversen Kürzungsideen in Grenzen. In städtische Ausschüsse und öffentliche Diskussionsveranstaltungen verliefen sich in den vergangenen Wochen nur wenig Zuhörer, und eine Protestveranstaltung der Gewerkschaften, des AStA, der Hildesheimer Aidshilfe und der Partei Die Linke auf dem Marktplatz blieb unmittelbar vor der Ratssitzung mit rund 50 Teilnehmern wohl unter den Möglichkeiten einer 100.000-Einwohner- Stadt. Der vielzitierte Großstadtstatus relativiert schließlich auch die 150 Besucher im Ratssaal, die, folgt man SPD-Mann Detlef Hansens spontaner Blitzumfrage, für die restliche Bevölkerung auch eher nicht repräsentativ sind. "Ich habe kurz vor der Ratssitzung fünf Leute in der Fußgängerzone befragt und keiner wusste, was wir hier heute beschließen wollen."

Beschlossen haben die Politiker das Gesamtpaket Zukunftsvertrag und seine aus einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen bestehende Packliste. Diese basiert auf den von der Lenkungsgruppe zusammengestellten Vorschlägen, wie städtische Ausgaben zurückgefahren und Einnahmen gesteigert werden können. Alles in allem muss die Stadt jährlich 39 Millionen Euro weniger ausgeben, um vom Land Niedersachsen eine Entschuldungshilfe von 140 Millionen zugestanden zu bekommen. Damit wäre Hildesheim nicht nur auf einen Schlag fast die Hälfte seiner Schuldenlast von insgesamt rund 300 Millionen Euro los, sondern müsste zudem Jahr für Jahr gut fünf Millionen Euro weniger Zinsen zahlen.

Ein verlockendes Ziel, das es allerdings vom ersten Gespräch mit dem Innenministerium bis zur (fast) alles entscheidenden Ratssitzung in dieser Woche in rund einem halben Jahr durchzuboxen galt. Ein Tempo, bei dem kaum Zeit blieb, Einzelheiten gründlich zu durchdenken.

Sonst wäre es vielleicht nicht bei dem guten Dutzend Änderungsanträge geblieben, mit dem die Fraktionen in letzter Minute noch dafür sorgten, dass beispielsweise der sogenannte Reptilienfonds, ein städtischer Zuschuss für freie Kulturprojekte, doch weiter gefüttert wird. Auch der Musikschule und der Volkshochschule wird die Unterstützung aus der Stadtkasse nicht, wie im Entwurf des Lenkungsausschusses vorgesehen, komplett gestrichen, sondern nur deutlich gekürzt; der Stadtteiltreff Broadway muss ebenfalls nicht ganz so harte Einbußen hinnehmen, wie zunächst vorgesehen.

Kein Grund zur Freude dagegen bei der Aidshilfe. Noch kurz vor Sitzungsbeginn hatte deren Geschäftsführerin Karin Cohrs gehofft, den Wegfall von knapp 30.000 Euro städtischer Zuschüsse – und damit einer vollen Arbeitsstelle – abwenden zu können. Doch einen entsprechenden Änderungsantrag der Grünen lehnte der Rat mehrheitlich ab.

Die durchgewunkenen Änderungen führen dazu, dass die Stadt rund eine Million Euro an anderer Stelle sparen oder – beispielsweise in Form von höheren Parkgebühren oder Bußgeldern – zusätzlich einnehmen muss, um ihr Sparziel nicht zu gefährden. Ob das Land der Stadt entgegenkommt, indem es die Begrenzung der freiwilligen Leistungen an den Haushaltsausgaben von drei auf fünf Prozent lockert, bleibt indes abzuwarten. Hintergrund ist, dass Hildesheim als sogenanntes Oberzentrum auch Leistungen für umliegende Gemeinden vorhält, beispielsweise Theater oder Museen. Damit habe die Großstadt einen anderen Status als kleinere Städte, hatten mehrere Ratsmitglieder argumentiert. Oberbürgermeister Kurt Machens äußerte sich jedoch skeptisch, ob dieses Argument auch andere am Entschuldungsfonds beteiligte Kommunen überzeugt.

Bevor sie sich endgültig auf die vom Lenkungsausschuss vorgeschlagenen und in den Fraktionen überarbeiten Sparmaßnahmen festlegten, lenkten einige Politiker den Blick noch einmal auf die Frage, wie das Minus von 300.000.000 Euro im städtischen Haushalt überhaupt hatte wachsen können.

Dazu hatte sich Detlef Hansen einen besonderen rhetorischen Kniff überlegt. Doch beim Versuch, darzulegen, welche unterschiedlichen Sichtweisen bei der Beantwortung dieser Frage möglich sind, blieb der SPD-Ratsherr auf halber Strecke hängen. Da hatte er gerade aufgezählt, wie sich die städtischen Ausgaben durch äußere Umstände – sinkende Gewerbesteuereinnahmen, höhere Sozialkosten, die Deutsche Einheit – seit dem Auftauchen der ersten roten Zahlen im Haushaltsplan in den 1990er-Jahren verändert haben. Die Schlussfolgerung "Rat und Verwaltung trifft überhaupt keine Schuld" kommentierte das Publikum mit unwilligem Gemurmel und ironischem Gelächter.

Doch Hansens Rede sollte ja noch weitergehen. Höhere Personalkosten, höhere Defizite, von den Politikern befeuerte Prestige-Projekte – betrachte man nur diese Aspekte, ließe sich genauso gut auch sagen: "Die Schuld liegt allein bei Rat und Verwaltung." Aber so einfach sei es eben auch nicht. Hansens Fazit jedenfalls, sinngemäß: Alle sind ein bisschen schuld – die äußeren Umstände, die Verwaltung, die Politiker und übrigens auch die Bürger, die der Politik nicht selten Entscheidungen abverlangten, ohne deren finanzielle Konsequenzen abzuwägen. Dass mancher Politiker solchen Wünschen vielleicht das eine oder andere Mal allzu leichtfertig nachgekommen ist, davon nahm Hansen sich auch selbst nicht aus.

Wasser auf die Mühlen von seinem Nachredner Thomas Müller (Bündnis). Der wiederum gänzlich frei von Selbstkritik gegen die frühere Ratspolitik insbesondere der großen Parteien wetterte und dabei großzügig darüber hinweg sah, dass einige Angehörige seiner eigenen Fraktion für eben jene Parteien schon im Rat aktiv waren, bevor es die Wählervereinigung Bündnis überhaupt gab. Eine Tatsache, welche von der gegenüberliegenen Tischseite mit viel Häme quittiert wurde.

Befreit vom Schweigegelübde der Vorberatungen, so schien es, verabschiedete sich mancher in der öffentlichen Debatte auch schnell wieder von allzu viel Harmonie zwischen den Fraktionen und kehrte lieber zum üblichen Parteiengezänk zurück. Die CDU schrieb später in einer Pressemitteilung von einer "sachlichen Atmosphäre mit teilweise sehr emotionalen Wortbeiträgen".

Neben den rückwärtsgewandten Sticheleien ging es in dieser fünfstündigen Ratssitzung dann aber doch vor allem um die Zukunft. Und wie die in Hildesheim aussehen wird, scheint nun zumindest etwas klarer. Allerdings sind noch viele Fragen offen. Erst nach der Ratssitzung wurde bekannt, dass das Land Niedersachsen inzwischen plant, die Frist für den Entschuldungspakt bis März 2013 zu verlängern. Ursprünglich galt der 31.  Oktober als letzter Abgabetermin. In Hildesheim scheint es den Beteiligten angesichts des weit fortgeschrittenen Prozesses jedoch kaum sinnvoll, die weiteren Schritte zu vertagen, zumal sich in dieser Zeit weitere Schulden anhäufen würden.

Bis also der nächste Rat wie geplant im September das Paket Zukunftsvertrag endgültig auf den Weg schicken kann, stehen noch etliche Nachbesserungen und Konkretisierungen aus. Dass es dabei nicht nur um Details geht, macht schon die nach wie vor ungeklärte Aufgaben und Finanzverteilung zwischen Stadt und Kreis deutlich.

"Ein historischer Tag ... ist das heute nicht". Mit diesen Worten hatte der einzige Mann im Saal, dessen Stimme Ratspolitiker und Publikum auch ohne Mikrofon erreichte, seine Rede begonnen. "Nur weil man eine Diät beschließt", fuhr Detlef Hansen unter Verweis auf seinen eigenen Resonanzkörper fort, "hat man noch kein Gramm abgenommen."

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