Spardebatte: "Wer das Theater aufgibt, gibt sich selber auf"

Seit 102 Jahren leistet sich Hildesheim ein Dreispartenhaus. Unter Mühen. Jetzt droht dem Theater für Niedersachsen die schwierigste Krise. Eine Kürzung von 500000 Euro brächte  weitere mit sich. Im schlimmsten Fall steht das TfN in sechs Monaten ohne Geld da. Und 270  Menschen haben keine Arbeit mehr. Gestern informierte Gade seine Mitarbeiter.

07.06.11 –

Seit 102 Jahren leistet sich Hildesheim ein Dreispartenhaus. Unter Mühen. Jetzt droht dem Theater für Niedersachsen die schwierigste Krise. Eine Kürzung von 500000 Euro brächte  weitere mit sich. Im schlimmsten Fall steht das TfN in sechs Monaten ohne Geld da. Und 270  Menschen haben keine Arbeit mehr. Gestern informierte Gade seine Mitarbeiter.

(Hildesheimer Allg. Zeitung, 07.06.11) Aller guten Dinge sind drei. Rettet das Dreispartentheater!"So lautete 1994 die Kampfparole, als es mal wieder um radikale Kürzungen im Stadttheater-Etat ging. Jörg Gade war mit dabei. Damals sammelte er als Chefdramaturg unter Intendant Klaus Engeroff Unterschriften gegen den Spartenabbau. Diesmal erlebt er die "schwerste Krise" der vergangenen Jahrzehnte als Intendant.

Als Kopf eines Theaters, das – um zu überleben - vor vier Jahren aus dem Zusammenschluss von Stadttheater und Landesbühne Hannover entstanden ist und mit der Fusion, dem Strukturwandel und den Personalreduzierungen schon seinen Einsparbeitrag geleistet hat. Findet Gade und wendet sich auf der Betriebsversammlung gestern an seine Mitarbeiter. "Wann immer ich in den vergangenen Jahren vor Ihnen stand, habe ich versucht, Ihnen Mut zuzusprechen, habe ich versucht, deutlich zu machen, dass am Ende alles gut wird." Seine Stimme stockt. "Das fällt mit heute schwer."

Der Intendant kommt direkt aus dem Rathaus. Oberbürgermeister und TfN-Aufsichtsratsvorsitzender Kurt Machens hatte kurzfristig gerufen. Er habe nicht vor, das Theater zu schließen, zitiert Gade den OB. Und er wolle auch keine Strukturen verändern, laute die Botschaft. "Aber der Oberbürgermeister ist Verwaltung" konstatiert Gade trocken. Beschließen wird der Rat am 27. Juni (siehe Kasten).

Aber Machens lässt auch ausrichten, dass alle Optionen geprüft werden müssen. So soll das Theater ermitteln, was eine Insolvenz kostet, was die Ausgliederung des Orchesters, die Schließung einzelner Sparten und die Umwandlung in ein reines Bespieltheater spart.

Kurzfristige Einsparungen sind Utopie

Gade weiß jetzt schon, dass keines der Ergebnisse einen kurzfristigen Einspareffekt bis 2013 ergeben wird. Eine Insolvenz erfordere einen Sozialplan, das ziehe hohe Kosten nach sich. Bei einer Umwandlung in ein Bespieltheater müssten alle Mitarbeiter tarifvertraglich vorgesehene Abfindungen bekommen. Eine Spartenschließung sei mit Einnahmeverlust verbunden. Wenn allerdings die Einnahmen gleich bleiben sollten, so müssten verbleibende Sparten aufgestockt werden.

Die Musicalcompany sei günstig wegzurationalisieren, habe aber einen hohen Anteil an den Einspielergebnissen und erschließe neues Publikum. Das Musiktheater als einziges reisendes Musiktheater in Niedersachsen habe das Land maßgeblich veranlasst, dem Fusionsvertrag zuzustimmen. Gleichzeitig habe das Orchesters die langfristigsten Bindungen, deren Auflösung am teuersten werde.

Mit dem Wegfall der Schauspielsparte verlöre das TfN die Landesbühnenfunktion, dadurch den Landeszuschuss von 3 Millionen des insgesamt 6,4-Millionen- Euro-Zuschusses aus Niedersachsens Hauptstadt. Zudem stammen 60 Prozent der Einnahmen aus dem Gastspielgeschäft. Unbeachtet ist bisher auch, dass mit einer Schließung des TfN die gbg – Besitzerin der Immobilie Theater – gemäß der Vereinbarung mit der Stadt das Haus samt Schulden zurückgeben darf.

Doch solche Überlegungen sind für die Mitglieder des Hauses gestern zweitrangig. Viele haben geahnt, dass es in der momentanen Finanzkrise nicht ohne Kürzungen abgehen wird. "Aber in diesem Ausmaße!" Das Entsetzen ist groß. Sie wollen wissen, was das bedeutet, wenn 500000 Euro von einem Gesamtetat von 15,7 Millionen Euro eingespart werden. Gade kann keinen Trost spenden. Er macht deutlich, dass bei städtischen Kürzungen auch der Kreis und das Land Niedersachsen mitziehen würden. "Es wäre illusorisch, das anders zu sehen. Das bedeutet, dass dem TfN insgesamt 2,1. Millionen Euro verloren gehen."

Außerdem würde der Zuwendungsvertrag mit dem Land, der nach langen Verhandlungen ab 2012 keine Kürzung und endlich eine Dynamisierung vorsieht ad absurdum geführt. Denn an diesem"Deal" müssen sich alle Träger beteiligen. "Der Vertrag wird also nicht zustande kommen." Kämmerin Antje Kuhne habe dieser Einschätzung zugestimmt, macht Gade deutlich. Im Klartext: Wenn die Kürzung mit all ihren Folgen durchgeht, steht das Stadttheater im schlimmsten Fall Ende 2011 ohne Geld da. Und 270 Mitarbeiter haben keine Arbeit mehr.

Nichts aus Stuttgart 21 gelernt

Besonders kritisch sieht der Intendant auch die Geheimhaltungsstrategie, denn der Lenkungsausschuss tagte gestern Abend hinter verschlossenen Türen: "Nichts aus Stuttgart 21 gelernt", konstatiert er. Und verweist auf Göttingen, wo das Thema Zukunftsvertrag öffentlich und kontrovers diskutiert und unter anderem als "unmoralisches Angebot" bezeichnet werde. "Denn der Schuldenerlass richtet nicht wieder gutzumachenden Schaden an dem an, was die Stadt lebenswert macht."

In Hildesheim dagegen rede man davon, dass der Zukunftsvertrag "alternativlos" sei. "Aber danach wird die Stadt anders sein." Und dabei handele es sich nicht nur um den Verlust von vielen Arbeitsplätzen, sondern auch um das Leben in Hildesheim. "Die Stadt zahlt 3,2 Millionen Euro und bekommt dafür 15,7 Millionen Euro zurück." Das ist der Gesamtetat, von dem der größte Teil über die Gehälter und über Aufträge in die Hildesheimer Wirtschaft fließe. Für Gade ein "Supergeschäft für die Stadt".

Generalmusikdirektor Werner Seitzer fasst die Konsequenz der Streichung vor dem Beginn der jüngsten "Aida"-Aufführung so zusammen: "Am27. Juni entscheidet sich, ob mehr als 200 TfN-Mitarbeiter den Gang in städtische Ämter antreten. Der eine zwecks Abmeldung ins Einwohnermeldeamt. Der andere zur Antragsstellung ins Sozialamt."

Doch noch ist es nicht so weit. Noch zeigen sich die Mitarbeiter kampfbereit, planen Unterschriftenaktionen, Umzüge, abendliche Aufklärungskampagnen im Kostüm. Nicht Trauer ist angesagt, sondern Kreativität und Engagement. Gemeinsam will man jedem Politiker klarmachen: "Wer für diesen Zukunftsvertrag stimmt, hat keine Zukunft mehr." Und: "Eine Stadt, die ihr Theater aufgibt, gibt sich selber auf."

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